“Längerfristige Freiheitsstrafe” nach Art. 62 AuG und “in schwerwiegender Weise” nach Art. 63 AuG

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In BGE 135 II 377 konkretisiert das Bundesgericht den Begriff “längerfristige Freiheitsstrafe” (betreffend Widerruf von Bewilligungen) nach Art. 62 lit. b AuG wie folgt (aus Regeste):

Eine längerfristige Freiheitsstrafe und mithin ein Widerrufsgrund gemäss Art. 62 Abs. 1 lit. b erster Satzteil AuG liegt dann vor, wenn eine ausländische Person zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde (E. 4.2). More

Geldstrafe vs. Freiheitsstrafe

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Im gestern veröffentlichten Urteil des Bundesgerichts BGer 6B_721/2009 vom 18.2.2010 geht es unter anderem um die Frage, welche Sanktionsart für Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr zu wählen ist:

4.2 Der neue Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches sieht für Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr die Geldstrafe (Art. 34 StGB) und die Freiheitsstrafe (Art. 40 StGB) vor. Bei der Wahl der Sanktionsart ist als wichtiges Kriterium die Zweckmässigkeit einer bestimmten Sanktion, ihre Auswirkungen auf den Täter und sein soziales Umfeld sowie ihre präventive Effizienz zu berücksichtigen (BGE 134 IV 97 E. 4.2; 134 IV 82 E. 4.1). Nach dem Prinzip der Verhältnismässigkeit soll bei alternativ zur Verfügung stehenden Sanktionen im Regelfall diejenige gewählt werden, die weniger stark in die persönliche Freiheit des Betroffenen eingreift bzw. die ihn am wenigsten hart trifft. Im Vordergrund steht daher auch bei Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr die Geldstrafe, als gegenüber der Freiheitsstrafe mildere Sanktion (BGE 134 IV 97 E. 4.2.2; 134 IV 82 E. 4.1). Die Geldstrafe kann auch für einkommensschwache Täter, d.h. für solche mit sehr geringem, gar unter dem Existenzminimum liegendem Einkommen ausgefällt werden (BGE 134 IV 97 E. 5.2.3 und 5.2.4). Das Gericht hat im Urteil die Wahl der Sanktionsart zu begründen (Art. 50 StGB). Der blosse Verweis auf die Schwere des Verschuldens und die Vorstrafen genügt den Begründungsanforderungen nicht (Urteil des Bundesgerichts 6B_289/2009 vom 16. September 2009 E. 2.7.2). [Hervorhebungen durch HZ]
Gestützt auf diese Erwägungen kam das Bundesgericht im konkret zu beurteilenden Fall zum Schluss, dass die Vorinstanz ihrer Begründungspflicht bei der Sanktionswahl nicht nachgekommen ist. Zudem wird der Vorrang der Geldstrafe ein weiteres Mal hervorgehoben:
4.3 Die Vorinstanz erwägt im angefochtenen Entscheid, die Ausfällung einer Geldstrafe sei angesichts des zu ahndenden Gewaltdelikts, welches von einer erheblichen kriminellen Energie des Angeklagten zeuge, keine schuldadäquate Sanktion. Als angemessene und zweckmässige Sanktion komme ausschliesslich eine Freiheitsstrafe in Frage.
Damit verkennt sie, dass der Geldstrafe entsprechend dem Prinzip der Verhältnismässigkeit auch bei Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr Vorrang zukommt. Dies gilt für sämtliche Deliktsarten. Mit dem Schuldprinzip unvereinbar wäre es, einzelne Deliktsgruppen wie etwa Gewaltdelikte als der Geldstrafe unwürdig zu betrachten, da das Verschulden bereits beim Strafmass zu berücksichtigen ist. Unzulässig ist es daher, eine Freiheitsstrafe anstelle einer Geldstrafe ausschliesslich mit der erheblichen kriminellen Energie des Beschwerdeführers zu begründen. Der angefochtene Entscheid genügt den Begründungsanforderungen nicht. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen. [Hervorhebung durch HZ]

Schlussfolgerung: Bei der Prüfung der Sanktion ist zunächst vom Schuldprinzip ausgehend die Anzahl der Strafeinheiten festzustellen. Anschliessend ist die Sanktionsart zu wählen, wobei der Geldstrafe Vorrang zukommt. Nicht zu vergessen ist, dass mehrere Sanktionsarten gewählt werden können oder unter Umständen gar müssen: namentlich sei die Busse bei Übertretungen erwähnt, welche nebst eines Verbrechens oder Vergehens zu beurteilen ist.

Rechtsabklärung: Veröffentlichung der Klage im Falle des unbekannten Aufenthaltes der Beklagten?

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Vorbemerkung: Diese Rechtsabklärung stützt sich auf BE-ZPO. Das Ergebnis stellt nur eine mögliche Vorgehensweise dar.

Ausgangslage

In einer Erbteilungsklage sowie Klage auf Aufhebung des Miteigentums behauptet die Klägerin, dass die Beklagte unbekannten Aufenthaltes sei. Die Klägerin hat keine Aufenthaltsnachforschungen unternommen und untermauert ihre Behauptung mit den Versuchen der Notare X und Y, die Beklagte ausfindig zu machen. Die Klägerin verlangt, dass das Gericht die Klage veröffentlicht und zugleich die Beklagte zwecks Bezeichnung einer Zustelldomizil in der Schweiz ausfindig macht.

Fragestellung

Wie soll das Gericht vorgehen? More

Wenn das BGer Ermessensentscheide “frei” zu überprüfen hat…

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… übt es am liebsten Zurückhaltung aus. So in BGer 4a_476/2009 vom 2.12.2009, wenn es darum ging, ob ein wichtiger Grund i.S.v. Art. 337 OR für die fristlose Kündigung eines Arbeitsvertrages vorliegt. Dazu Folgendes:

3.1 Nach Art. 337 OR kann der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis aus wichtigen Gründen jederzeit fristlos auflösen (Abs. 1). Als wichtiger Grund gilt jeder Umstand, bei dessen Vorhandensein dem Kündigenden nach Treu und Glauben die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden darf (Abs. 2). Nach der Rechtsprechung ist eine fristlose Entlassung nur bei besonders schweren Verfehlungen des Arbeitnehmers gerechtfertigt. Diese müssen einerseits objektiv geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tief greifend zu erschüttern, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zuzumuten ist. Anderseits müssen sie auch tatsächlich zu einer derartigen Zerstörung oder Erschütterung des gegenseitigen Vertrauens geführt haben. Sind die Verfehlungen weniger schwerwiegend, so müssen sie trotz Verwarnung wiederholt vorgekommen sein (BGE 129 III 380 E. 2.1 mit weiteren Hinweisen). Bei der Gewichtung einer Pflichtverletzung ist bei Kaderpersonen auf Grund des ihnen entgegengebrachten besonderen Vertrauens und der Verantwortung, welche ihnen ihre Funktion im Betrieb überträgt, ein strenger Massstab anzulegen (BGE 130 III 28 E. 4.1 S. 31; 127 III 86 E. 2c S. 89). Entsprechend hat das Bundesgericht bei einem Arbeitnehmer, der als Personalleiter eine Vertrauensposition im Betrieb innehatte, eine Täuschung des Arbeitgebers durch das wahrheitswidrige Herstellen von Dokumenten für die Buchhaltung als wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung qualifiziert (BGE 124 III 25 E. 3a S. 27 f.).
Es sind also “besonders schwere Verfehlungen des Arbeitnehmers” erforderlich, damit das Arbeitsverhältnis fristlos aufgehoben werden kann. Der Bundesgesetzgeber verlangt in Art. 337 Abs. 3 OR, dass der Richter über solche Umstände nach seinem Ermessen entscheidet. Für das BGer bedeutet dies konkret:
3.2 Über das Vorhandensein eines wichtigen Grundes zur fristlosen Kündigung entscheidet das Gericht nach seinem Ermessen (Art. 337 Abs. 3 OR). Ermessensentscheide überprüft das Bundesgericht bei Beschwerden in Zivilsachen grundsätzlich frei. Es übt dabei aber Zurückhaltung und schreitet nur ein, wenn die Vorinstanz grundlos von in Lehre und Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, wenn sie Tatsachen berücksichtigt hat, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle hätten spielen dürfen, oder wenn sie umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen hat, die zwingend hätten beachtet werden müssen. Ausserdem greift das Bundesgericht in Ermessensentscheide ein, falls sich diese als offensichtlich unbillig, als in stossender Weise ungerecht erweisen (BGE 129 III 380 E. 2 mit weiteren Hinweisen).

Die Schlussfolgerung: Nur kantonale Gerichte haben frei nach ihrem Ermessen zu entscheiden; das BGer entscheidet nur “zurückhaltend frei”. Es fragt sich, ob diese Zurückhaltung gegen Art. 337 Abs. 3 OR verstösst. Dieses Vorgehen des Bundesgerichts ist insbesondere für jenen Fall ungeeignet, wenn der Beschwerdeführer in erster Instanz obsiegt und erst die zweite Instanz seine Anträge abweist.